Nachts hörte man die Sirenen der Lastkähne auf dem Fluss und die Güterzüge. Die Züge hörte man schon lange bevor sie durch das Dorf rauschten.Dann hörte man noch lange wie die Räder ihren Rhythmus schlugen dudum dudum dudum dudum. Ich lag wach, mit offenen Augen und träumte von der Ferne.
Die Ferne war immer da,sei es in Form von Bergen ,die am Horizont sichtbar waren, oder als Fluß der von irgendwo kam und irgendwohin strömte. Die Schiffe, die er trug beförderten geheimnisvolle Inhalte in ihren Bäuchen. Immer rätselten wir Kinde, was sich wohl auf den Schiffen befinden mochte, oder auf den Zügen. Schätze ganz bestimmt, unermeßliche Reichtümer. Vielleicht aber auch grauenhafte Geheimnisse, wer konnte das schon sagen? Es war uns verboten nahe der Bahnlinie zu spielen oder dem Fluss. Das machte mich nur umso sicherer : hier ging es um große Geheimnisse. Die Welt, daran kann ich mich noch sehr genau erinnern, war voller Geheimnisse. Es gab alte Häuser,die verboten waren. es sei zu gefährlich dort, sagte man uns. Man verbot uns auch über eine bestimmte Grenze auf den Feldern hinwegzugehen. Auch das sei zu gefährlich. Nie erfuhren wir welche besonderen Gefahren uns dort erwarten könnten, hinter diesen Grenzen, es hiess immer nur, da sei es zu gefährlich. Die Welt war voller Gefahr und Geheimnisse. Es war wunderbar.
Es gab noch viele dunkle Winkel auf der Welt, im Keller, auf dem Speicher, in Scheunen. Noch gab es viele Trümmer von dem letzten Krieg: Ruinen, man zeigte sie uns und die Stimmen senkten sich. Da also habe der Bahnwärter gewohnt mit seiner Familie, seiner Frau, seiner kleinen Tochter, ein wunderschönes Kind mit blonden Locken, so alt wie deine Schwester jetzt. Und diese schönen Locken sei das einzige, das man noch gefunden habe, nach dem Bombenangriff, die blonden locken. Der Hund war noch angebunden im Garten. Ihm war nichts passiert..das Haus lag in Trümmern, die Menschen alle tot, aber der Hund lag im Garten und wedelte mit dem Schwanz als man kam um nachzusehen. Ja, so war das, Kinder! Damals , das weiß ich heute, lebte ich an der grenze zwischen der alten und der neuen Zeit. Die alte Zeit war immer noch da: in den Schränken, in der Scheune, in alten Kellern, in diesen eisern verschlossenen Truhen auf Dachböden, da war sie noch, die alte Zeit. Man stieß an eine Schranktür und ein alter Stiefel fiel einem entgegen, Schachteln öffneten sich und entließen eine Flut von Fotografien. Doch vor allem war es dieser Geruch, an dem ich die alte Zeit erkannte, dieser unverkennbare Duft nach altem Tabak, nach Staub, Eisen - einer Komponente die wie ein Mysterium die Essenz der Vergangenheit enthielt. Das weiß ich noch ganz genau, die Welt roch anders , damals. Die Straßen rochen nach heißem Staub im Sommer. Wenn ein Regen darauf niederging war es ein Duft als ob die Erde schwitzte, süß, herb. Die Straße war noch krumm und gewölbt, nicht eben und gerade wie heute.. der Frühling roch nach Matsch und Weidenkätzchen und frischer Wäsche. Und der Schnee roch tatsächlich noch nach Schnee. er fiel in dicken ungetrübten Flocken und wir Kinder jauchzten und versuchten eine Schneeflocke mit der Zunge zu fangen, in der sicheren Hoffnung, daß so etwas Schönes wie eine Schneeflocke ganz sicher auch wunderbar schmecke. es gab auch nie einen Zweifel darüber, wann der Herbst da sei. Der Rauch von vielen kleinen Feuern zog durch die Straßen, wenn die Leute draußen auf den Feldern das Kartoffel-oder Spargelkraut verbrannten. Dieser Rauch mischte sich mit dem Duft von Fallobst, Birnen und Äpfeln, die eingesammelt wurden und gekeltert. Auch das ein aufregendes Ereignis: das Obst wurde in große Bottiche gekippt, gepreßt und unten kam eine süße Flut heraus, von der man trinken durfte soviel man konnte. Das fand bei einem Nachbarn statt, einem Bauern auf der anderen Straßenseite, unglaublich weit weg.
Eines Tages nahm er mich und meinen Großvater mit aufs Feld. Ich durfte auf einem der Ochsen reiten , die das Fuhrwerk zogen. Es war ein schöner Tag und ich warf viele Steine in alle möglichen Richtungen mit der ganzen Kraft und Unermüdlichkeit meiner drei Jahre:Es war, wie gesagt, ein schöner Tag. Ich versuchte, die Steine so weit wie möglich in den Himmel hineinzuwerfen. Interessanterweise kamen sie immer zurück. Sie stiegen hoch auf in den Himmel- ich beobachtete sie sehr genau, oh ja - schienen einen Moment im tiefen Blau hängenzubleiben und stürzten dann aber doch mit, damals unfaßbarer Sicherheit wieder auf die Erde zurück. Wieder einmal hatte ich einen Stein geworfen, wieder einmal folgte ich ihm auf dem Weg zurück zur Erde mit dem Blick. Da sah ich plötzlich , daß die Welt nicht aufhörte hinter dem Acker, sondern dahinter war noch ein Acker und ein anderer und so fort und dahinter war der Wald und noch weiter in der Ferne: Berge, gewaltig und unerreichbar. Langsam drehte ich mich im Kreis. Überall rings umher fast das gleiche Bild. Viele Felder, Wald, auf der einen Seite unser Dorf und auch dahinter: Berge! Wieder blickte ich nach oben und ich bemerkte, daß die Wolken noch nicht das ende des Himmels darstellten. Mein Blick stürzte in die Tiefe dieser mächtigen, blauen Kuppel und da verstand ich plötzlich, daß ich kein Ende sehen konnte. Es war eine Entdeckung, die mich erst erschreckte, denn ich hatte auf einmal, beim Starren in den Himmel , das verwirrende Gefühl ich hinge an der Decke eines gewaltigen Raumes und blickte nach unten in die Tiefe: Eine unglaubliche, weiche, blaue Tiefe. Einen Moment lang meinte ich , mich mit den Zehen fest an der Erde festkrallen zu müssen, spürte dann aber erleichert , daß mich die Erde wieder an sich zog. Dann verlor ich das Gleichgewicht, fiel um und hatte im nächsten Augenblick alles vergessen. Es gab Wichtigeres: einen Käfer. Dann ein Loch im Boden. Dann das hohe Gras. Es kitzelte. Und roch. Und summte. Da war es gelb, dort war es blau. Die Ochsen bewegten sich, riesig wie Elefanten. Plötzlich rannte ich sehr schnell über die abgemähte Wiese und rief laut hoooooooooo. Dann blieb ich ganz plötzlich stehen und war sehr stumm: es gab aufregend viel zu tun!

Meine Großmutter nahm immer einen kleinen Hocker mit hinaus auf die Straße, abends, wenn die Menschen noch vor ihren Häusern standen, einander besuchten. die Frauen erzählten sich kleine Geschichten vom anderen Dorfende und die Männer rauchten eine Zigarre oder Pfeife. Manchmal durften wir Kinder noch dabei sitzen, im Nachthemd und erzählten uns unsere eigenen Geschichten, oder spielten noch schnell eine Runde Fangen. Irgendwann war man sich dann unter den Erwachsenen einig, daß es Zeit für uns Kinder sei ins Bett zu gehen. Man brachte uns dorthin, sprach ein Nachtgebet mit uns , das Licht wurde gelöscht. Stille. Die Fenster waren offen. Die Akazien dufteten. Vor dem Haus, auf der Straße standen eine Weile noch die Nachbarn, gedämpft murmelten sie miteinander, dann sagten sie sich Gutnacht.
Ich lag wach, mit offenen Augen und hörte die Sirene des Schiffes auf dem Fluß, erst nah, dann weiter weg. Aus noch größerer Entfernung kam ein Rauschen, schwoll an, wurde rhythmisch, metallisch: ein Güterzug, dudum, dudum, dudum, dudummm und verrauschte wieder in der Ferne. Da fiel mir wieder meine Entdeckung ein, die ich am Tag gemacht hatte - die riesige blaue Kuppel über uns und daß die Welt nicht am Feldrand aufhört, sondern sogar noch viel weiter geht. Und dann verstand ich mit einem Mal, daß die Schiffe und die Züge aus dieser Weite kamen und wieder in diese Weite hineinfuhren.
Ich schlief ein.

© by Reinhold Weiser